Überholen ohne einzuholen

Da ich während meiner USA-Aufenthalte als Schüler und Student viele Erfahrungen sammelte, die mich prägten, erkannte ich nach den ersten Jahren im Schuldienst, dass mir die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) eine weitere Gelegenheit bot, mich als Lehrer weiterzuentwickeln.

Im Zuge des Bewerbungsprozesses hatte ich mich daher intensiv mit den Aufgabenbereichen innerhalb des DSD-Programms sowie mit den reizvollen PASCH-Projekten auseinandergesetzt, sodass das Interview in Bonn erfolgreich verlief und mir einige Tage später eine Stelle als Fachschaftsberater in Guangzhou (China) angeboten wurde.

Obgleich der Stadtname (vgl. Kanton) anfangs kein Assoziationsfeuerwerk auslöste, verhalfen einige YouTube-Videos dabei, erste, digitale Eindrücke zu gewinnen, die mich darin bestärkten, die Stelle anzunehmen. Vier Jahre später kann ich zwar immer noch nicht behaupten, Guangzhou wie meine Westentasche zu kennen, da sich die Megalopole (13 Millionen Einwohner plus zehn Millionen Wanderarbeiter) am Perlflussdelta ungebremst ausdehnt und unnachahmlich ausprobiert. Nichtsdestoweniger habe ich in just diesen vier Jahren überhaupt erst einen Begriff davon erhalten, wie formbar und fortschrittlich das 21. Jahrhundert sein kann. Ich reiste mit der Vorstellung an, in eine fremde Kultur einzutauchen, und erwachte in einem genauso subtropischen wie surrealen Hightech-Schmelztiegel, dessen Produktivität dem Welthandel seinen Stempel aufdrückt.

Unterstützung durch chinesische Lehrkräfte

Sicherlich fällt der Schritt ins Abenteuer ungebunden leichter, obgleich Kolleginnen und Kollegen in generisch gewachsenen Städten, wie beispielsweise Fuzhou, gleichermaßen zügig mit der Familie Fuß fassen und damit den Nachwuchs bereits frühzeitig für die Spielarten der Zukunft sensibilisieren. Gemein haben jedoch alle ZfA-Lehrkräfte – egal, in welcher chinesischen Stadt sie ihren Dienst antreten – die Erfahrung, dass die chinesischen Ortslehrkräfte vom Moment der Vermittlung über die Reisevorbereitung bis hin zum Einzug vor Ort tatkräftig unterstützen und durch die unvermeidlichen bürokratischen sowie kulturell bedingten Irr- und Umwege geleiten. Darüber hinaus haben all diejenigen, die sich für China entscheiden, sehr schnell die Redewendung: "überholen ohne einzuholen" verinnerlicht, denn sie umschreibt den ungebremsten Aufstieg Chinas. Mittlerweile schlägt der Containerhafen Guangzhous 4-mal mehr Fracht um als der Hamburger Hafen und jährlich nutzen 3,5 Milliarden (!) Passagiere die Metro Guangzhous, was dem sechsfachen Passagieraufkommen Berlins entspricht.

Ortslehrkräfte während einer DSD-GOLD-Fortbildung in Shanghai

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Ortslehrkräfte während einer DSD-GOLD-Fortbildung in Shanghai Ortslehrkräfte während einer DSD-GOLD-Fortbildung in Shanghai Quelle: Claus Huxdorff

Nichtsdestoweniger soll nicht der Eindruck entstehen, dass alles in China besser als in Deutschland sei. Vor allem das zügellose Konsumverhalten samt der wuchernden Müllmassen, die oftmals nichtexistente Rücksichtnahme und die zum Teil pathologische Smartphone-Sucht nähren das tägliche Kopfschütteln. Der Auslandsaufenthalt erlaubt aber ebenso, die Tugenden Deutschlands wertzuschätzen. Insbesondere die Denkmalpflege verdient eine Erwähnung, denn es ist mitunter in unserer westlichen Wahrnehmung äußerst entwürdigend, mit welchem Disney-Anstrich einzelne Kulturgüter übertüncht werden, um dem knallbunten Klamauk des Massentourismusrummels zu entsprechen. Deutschland kann sich natürlich das eine oder andere von China abschauen und dazu gehört unter anderen die flächendeckende Digitalisierung, die vom Gesichtsscan bei Schulzutritt bis hin zur QR-Code-Allgegenwart reicht, oder auch das nachhaltige Nahverkehrsangebot, welches durch das rasante Summen der E-Busse und E-Taxen auf sich aufmerksam macht. Zudem wissen das automatisierte Maut-System sowie die Hochgeschwindigkeitszüge zu überzeugen.

Pädagogische Vorstellungswelten

Schwierig wird es jedoch, sobald ein Vergleich zwischen dem deutschen und dem chinesischen Bildungssystem angestellt werden soll, denn dieser muss in fast jedem Punkt misslingen, da zwei grundlegend verschiedene pädagogische Vorstellungswelten aufeinanderprallen, wodurch die Kompromissfindung mit Herausforderungen verbunden ist. Allein die Größenverhältnisse entziehen sich jeder Vorstellungskraft, da selbst ein überdurchschnittlich großes deutsches Gymnasium mit 700 Schülerinnen und Schülern es mit einer durchschnittlichen chinesischen Schule mit 3.000 Schülerinnen und Schülern nicht aufnehmen kann. Sofern jeder Campus einer chinesischen Fremdsprachenschule berücksichtig wird, kann deren Schülerschaft auf über 10.000 anschwellen. Ferner klafft insbesondere in punkto Ausstattung eine Lücke. So gehörten 2016 mancherorts in Deutschland Folie und Overheadprojektor noch zum technologischen Fortschritt, wohingegen die mir bekannten DSD-Schulen Chinas mit Technik ausgestattet sind, von der die meisten deutschen Schulen noch in Jahren träumen werden.

Systemisch weist weder das deutsche noch das chinesische Schulwesen richtungsweisende Vor- oder Nachteile auf, stattdessen liegt es in der Natur des Auslandsschulwesens, sowohl die Stärken des einen als auch die Stärken des anderen fruchtbar zu machen, um die ortsgebundenen Schwächen auszugleichen. Während in Deutschland Lehrkräfte zuweilen als Einzelkämpfer operieren, erweitern Lehrkräfte in China fortwährend ihr fachliches und methodisch-didaktisches Repertoire, da schulinterne Teamhospitationen zum Alltag gehören. Deutsche Schülerinnen und Schüler weisen eine ausgeprägte Problemlösungskompetenz auf, wohingegen chinesische Schülerinnen und Schüler einen unerschütterlichen Lerneifer besitzen und sich bei Lehrkräften für das Erteilen von Hausaufgaben bedanken.

Unterricht rund um die Uhr

In Deutschland genießen die Schülerinnen und Schüler ein wesentlich größeres Freizeitkontingent, welches mit mehr Eigenverantwortlichkeit bzgl. der Erledigung der schulischen Aufgaben einhergeht. Im Gegensatz dazu findet aufgrund des immensen, populationsbedingten Konkurrenzdrucks der Unterricht in China – gefühlt – rund um die Uhr statt. Oftmals stehen die Schülerinnen und Schüler um 5:30 auf, um die Aufgaben zu erledigen, die sie in der vorrangegangen Nacht nicht mehr geschafft haben. Der reguläre Unterricht findet von 7:15 bis 20:30 statt, woran sich das Selbstlernen bis 22:30 anschließt. Am Freitagnachmittag erfolgt um 17:00 die schulische Völkerwanderung zu den Elternhäusern, welche am Sonntagnachmittag retour geht, damit ab 18:30 der Unterricht wieder aufgenommen werden kann. Selbstredend wird der komplette Samstag und der Sonntagvormittag im hiesigen Nachhilfezentrum verbracht und Feiertage, die auf einen Wochentag fallen, werden selbstverständlich an den Wochenenden vor- bzw. nachgearbeitet, damit keine wertvolle Unterrichtsstunde verloren geht. Das chinesische Internatsleben samt Fahnenappell schmiedet dabei eine sich unentwegt gegenseitig motivierende Gemeinschaft, welche sich im patriotischen Stolz auf die eigene Schule widerspiegelt. Dem gegenüber steht die weitestgehend ungefilterte Entfaltung der Persönlichkeit deutscher Schülerinnen und Schüler, die aber nicht nur individuelle Potenziale freisetzen sondern auch Orientierungslosigkeit hervorbringen kann.

Die einzige wirkliche Übereinstimmung besteht darin, dass sich sowohl die Lehrkräfte in Deutschland als auch die Lehrkräfte in China während der ersten beiden Schulwochen eines Schulhalbjahres mit mindestens fünf Stundenplänen herumplagen müssen.

Veranstaltungen und weitreichende Mitgestaltungsmöglichkeiten

Obwohl der Vergleich zwischen dem deutschen und dem chinesischen Bildungssystem hinkt, wird die besondere Attraktivität des Auslandsschulwesens in Form von regionalen und nationalen Veranstaltungen potenziert. So ist es immer wieder ein Vergnügen, mit Schülerinnen und Schülern Inhalte für Wettbewerbe zu erarbeiten oder bei Veranstaltungen wie „Jugend debattiert“ mitzuwirken. Gleichfalls ist es durchaus erwünscht, eigene Ideen einzubringen und beispielsweise Sport-und-Sprach-Wettkämpfe, wie das DSD-Schulfußballturnier in Hangzhou, ins Leben zu rufen.

Als Fachschaftsberater ergeben sich des Weiteren vormals ungeahnte Mitgestaltungsmöglichkeiten, denn neben dem regulären Unterricht, trage ich zum Beispiel bei der Durchführung von nationalen Blended-Learning-Fortbildungen unmittelbare Verantwortung für die fachliche und methodisch-didaktische Ausbildung der Ortslehrkräfte. Darüber hinaus unterstütze ich die mir zugeteilten Schulen, an denen ich auch die mündlichen Prüfungen abnehme, bei allen Angelegenheiten sowie Fragestellungen, die das DSD-Programm betreffen. Ferner ist es mir vergönnt, der Studienkoordination zu assistieren, sodass ich jedes Jahr die komplette Bandbreite vom Sprachanfänger bis zum DSD-Studienanfänger begleiten darf. Eine gewinnbringende Erfahrung ist gleichfalls die Zusammenarbeit mit den Mittlerorganisationen, wie dem Goethe Institut, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der Auslandshandelskammer (AHK) sowie den Kulturreferentinnen und Kulturreferenten der Auslandsvertretungen. Außerdem schätze ich den jährlichen Wechsel der Prüfungsschwerpunkte, der eine dynamische Auseinandersetzung mit der Materie hochkomplexer Themenbereiche einfordert, da mir – nach der zehnten Lektüre –  weder Nathan noch Prospero Neues offenbaren wollten.

Summa summarum ist China für diejenigen die richtige Entscheidung, die einen Blick in die Zukunft werfen wollen. Jedoch sollten drei Jahre oder mehr eingeplant werden, um die Früchte der eigenen Arbeit tatsächlich ernten zu können.

Claus Huxdorff

Claus Huxdorff ist seit Ende 2016 als Fachschaftsberater in Guangzhou, China, tätig.

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Stand 01.03.2021