"Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung derer, welche sich die Welt nie angeschaut haben." - Alexander von Humboldt zugeschrieben

Mehrere musikethnologische Feldforschungen führten mich schon während meines Studiums und in den Folgejahren nach Mexiko. Dort lernte ich schließlich meine Frau kennen. Nach der Geburt unseres Sohnes trafen wir gemeinsam die Entscheidung, für mehrere Jahre nach Lateinamerika zu gehen, um unseren Horizont zu erweitern und unserem Kind eine interkulturelle und bilinguale Erziehung zu ermöglichen. Ich bewarb mich und bekam bald ein Angebot aus der peruanischen Hauptstadt Lima, wo ich im Februar 2015 meinen Dienst als Auslandsdienstlehrkraft (ADLK) antrat.

Entgegen der Vorstellung, der Auslandsschuldienst sei lediglich so etwas wie bezahlter Urlaub, sollten die folgenden sieben Jahre in Lima für uns einen Erfahrungsschatz bereithalten, der vieles zuvor Erlebte in den Schatten stellen würde. Und nicht jede Erfahrung war angenehm, denn jede Medaille hat bekanntlich zwei Seiten. Doch nur beide Seiten ergeben ein vollständiges Bild und ermöglichen ein tieferes Verständnis des gastgebenden Landes, seiner Kultur und seiner Menschen.

Leben in Lima

Lima, nach Kairo die zweitgrößte Wüstenhauptstadt der Welt, präsentierte sich uns bei unserer Ankunft am Flughafen und auf dem Weg zu unserer ersten Unterkunft nicht gerade als Schönheit. Eine Megastadt mit nahezu neun Millionen Einwohnern, sehr laut, sehr staubig, sehr anstrengend. In der Peripherie Armenviertel, euphemistisch "Pueblos Jovenes" (junge Dörfer) genannt, die vor allem während der Zeit des Terrorismus in den 80er und 90er Jahren im Zuge einer Massenflucht aus den betroffenen Bergregionen entstanden waren. Mit der Zeit lernten wir aber auch die andere Seite der Stadt kennen. Malerische Stadtviertel wie z.B. Barranco mit seinem kolonialen Charme und den vielen Bars mit Live-Musik. Oder den Malecón, eine maritime Promenade entlang der Pazifiksteilküste, an der vor allem an Wochenenden viele Limeños ihre Zeit mit Spaziergängen oder Wellenreiten verbringen und abends die Sonnenuntergänge genießen.

Bilder aus Peru

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Aras im Amazonas Regenwald Aras im Amazonas Regenwald Quelle: Alexander Gums

Außerdem verfügt Lima als einstiges Zentrum des Königreichs Peru über eine aufregende Geschichte und viele Zeugnisse seiner prähispanischen und kolonialen Vergangenheit. Heute ist die Metropole am Humboldt-Strom mit seinen zahlreichen Restaurants vor allem und ganz zu Recht als "kulinarische Hauptstadt Südamerikas" bekannt. Lima ist aber auch ein günstiger Ausgangspunkt für Reisen durch ganz Peru. Und dieses Land hat viel zu bieten: einen etwa 2000 Kilometer langen Wüstenstreifen an der Küste, atemberaubende Berglandschaften in den Anden, den Amazonasdschungel und einige der schönsten Kolonialstädte Südamerikas.

Bilinguale und bikulturelle Begegnungsschule

Die Deutsche Schule Alexander von Humboldt in Lima ist eine bilinguale und bikulturelle Begegnungsschule. Mit etwa 1300 Schülerinnen und Schülern gehört sie zu den großen Deutschen Auslandsschulen. Ihre Ursprünge reichen zurück bis ins Jahr 1882, ihr heutiges Erscheinungsbild erhielt sie aber 1952 bei ihrer Wiedereröffnung. Damals noch am Stadtrand gelegen, ist sie heute eine grüne Oase inmitten der peruanischen Hauptstadt. Sie zeichnet sich aus durch ein engagiertes und innovatives Kollegium, eine überaus freundliche Schülerschaft und Rahmenbedingungen, von denen man in Deutschland oft nur träumen kann.

Neben meinen Aufgaben als Fachleiter für DaM (Deutsch als Muttersprache), insbesondere im Zusammenhang mit dem Deutsch-Abitur, war mein eigentlicher Schwerpunkt die Leitung der Fachschaft Musik. Und hier zeigte sich mir gleich zu Beginn meiner Tätigkeit ein ambivalentes Bild. Zum einen musste ich feststellen, dass dem Musikunterricht in Peru nur ein geringer Stellenwert beigemessen wird, was sich in dem sehr begrenzten musiktheoretischen Wissen der meisten Lernenden zeigte. Auf der anderen Seite aber war ich beeindruckt von den beachtlichen musikpraktischen Fertigkeiten und der außergewöhnlichen Spielfreude der peruanischen Schülerinnen und Schüler. Und dies waren die besten Voraussetzungen für ein großes Projekt zum damals bevorstehenden 250. Geburtsjahr Alexander von Humboldts, des Namensgebers unserer Schule.

Zweisprachiges Musical: kultureller Auftakt zur "Humboldt-Woche"

Zusammen mit einem zu dieser Zeit an unserer Schule tätigen deutschen Schauspieler und einer Musikerin und Kollegin plante ich, ein zweisprachiges Musical über Humboldts Südamerika-Reise zu schreiben. Diese Idee fiel bei der Schulleitung auf fruchtbaren Boden und so konnten wir im Jahr 2017 mit der Arbeit beginnen. Mit Hilfe eines groß angelegten Castings wurde ein etwa fünfzigköpfiges Team aus Darstellern, Chorsängern, Tänzern und Orchestermusikern zusammengestellt, in monatelanger Arbeit und mit verlässlicher Unterstützung unserer Hausverwaltung das etwa zweistündige Werk auf die Bühne gebracht und schließlich als kultureller Auftakt zur "Humboldt-Woche" im Oktober 2019 unter dem Titel "La gran Travesía" (Die große Überfahrt) uraufgeführt.

Der Mensch muss das Gute und Große wollen…",

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Schülerinnen und Schüler auf der Bühne Das Schüler-Musical entführte die Zuschauer in die Welt von Alexander von Humboldt Quelle: Peruanisch-Deutsche Schule "Alexander von Humboldt"

Neben Eltern, Lehrkräften und Schülern, dem deutschen Botschafter und dem Sender Deutsche Welle waren auch zwei direkte Nachfahren Alexander von Humboldts angereist. Eine interkulturelle Begegnung der besonderen Art an einer interkulturellen Begegnungsschule. Für mich sicherlich ein besonderer Höhepunkt in meinem bisherigen Berufsleben und in dieser Form an einem Gymnasium in Deutschland kaum umsetzbar.

Pandemiejahre in Lima

Nur wenige Monate später - die Fallhöhe konnte kaum größer sein - erreichte die Corona-Pandemie Peru. Von einem Tag auf den anderen wurden sämtliche Bildungseinrichtungen des Landes geschlossen, eine nächtliche Ausgangssperre verhängt und die meisten meiner deutschen Kolleginnen und Kollegen verließen mit dem letzten humanitären Flug das Land. Meine Frau und ich entschieden uns aber gegen eine überstürzte Ausreise und blieben mit unserem Sohn in Lima bei unserer Schule. Doch wie sollte es nun weitergehen? Ein großer Teil der Elternschaft stellte aufgrund der prekären Situation die Zahlung des Schulgeldes ein und die Zukunft des Colegio Humboldt schien für einen Moment ungewiss. Auch dank einer Soforthilfe der Bundesregierung Deutschlands für die Deutschen Auslandsschulen konnte die Krise gemeinsam bewältigt werden. Die Schule war gezwungen, sich in kürzester Zeit auf Fernunterricht umzustellen. Die Curricula aller Fächer wurden den Erfordernissen des Online-Unterrichts angepasst, es etablierte sich ein Grundstock gemeinsamer digitaler Lehr-Lern-Werkzeuge und schon bald hatten wir so etwas wie eine digitale Unterrichtsroutine erreicht. Doch "Routine" ist eigentlich nicht das richtige Wort. Eine außerordentliche Arbeitsbelastung für alle Kollegen, sich häufende Schicksalsschläge in der Schulgemeinschaft, die großen psychischen Belastungen für unsere Schülerinnen und Schüler und die sich regelmäßig ändernden Vorgaben des peruanischen Bildungsministeriums stellten uns vor immer neue Herausforderungen, auf die wir reagieren mussten.

Auch unser Familienleben wurde auf die Probe gestellt, mussten doch der Online-Unterricht unseres Sohnes und parallel dazu meine eigenen Videokonferenzen von zu Hause aus organisiert werden. Doch jede Krise bringt auch Positives hervor, da man sich wieder auf das Wesentliche besinnt. In unserem Fall war das die gemeinsame Bewältigung der Herausforderungen im Privaten wie in der Schule, die große Solidarität und das intensive Miteinander, die aufrichtige Dankbarkeit von Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern für das Unterrichtsangebot unter schwierigsten Bedingungen oder auch eine durch die Praxis und zahlreiche Online-Fortbildungen deutlich erweiterte Medienkompetenz unter uns Lehrkräften. Ganz nebenbei erfuhr auch der Wortschatz unseres "Humboldt-Deutsch" einige kreative Erweiterungen. Insbesondere wurden nun Begriffe der Zoom-Nutzeroberfläche ins Deutsche eingepflegt. Die ganze Tragweite dieses Vorgangs wurde mir bewusst, als ich in einer meiner Online-Unterrichtsstunden wieder einmal vergessen hatte, mein Mikrofon einzustellen, und ein Schüler mich freundlich auf Deutsch darauf hinwies: Herr Gums, Sie sind mutiert!

Sieben Jahre Auslandsschule, sieben Jahre Peru, eine Medaille mit zwei Seiten: ein unermesslicher Erfahrungsschatz mit ganz besonderen Momenten, Erfüllung in der Arbeit mit motivierten Schülerinnen und Schülern, aber auch eine große Herausforderung für meine Familie und mich, insbesondere während der zwei Pandemiejahre, die wir in Lima verbrachten. Doch wir bereuen es nicht und würden uns immer wieder für diese Herausforderung entscheiden!

Alexander Gums

Alexander Gums unterrichtete von 2015 bis 2021 als Auslandsdienstlehrkraft die Fächer Deutsch und Musik an der Deutschen Schule Alexander von Humboldt in Lima, Peru.

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Stand 06.05.2022